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Institute of Biomedical Ethics and History of Medicine (IBME)

Dissertation Christine Bally-Zenger

«Alt werden im Paradies» und der «Lebensabend in der Fremde»

Abstract

In dieser Dissertation werden Zeitungsartikel einer kritischen Diskursanalyse (KDA) nach Siegfried Jäger unterzogen, die sich mit dem Phänomen der Migration von langzeit- pflegebedürftigen Menschen in Langzeitinstitutionen in Thailand oder Osteuropa aus- einandersetzen. Es werden dabei folgende Fragen beantwortet: Wie wird Langzeitpflege in den ausländischen Pflegeinstitutionen beschrieben? Was wird benannt und was nicht? Welche sprachlichen Mittel werden eingesetzt, um über diese Art der Migration zu berichten?

Im Anschluss an die KDA werden einige Analyseergebnisse mit Hilfe eines moralisch- ethischen Massstabs einer ethischen Kritik unterzogen, um die politischen und ethischen Implikationen einer solchen Kritik aufzuzeigen.
Der Artikel «Alt werden im Paradies», den Bally-Zenger, Eckenwiler und Wild im Jahr 2017 in Ethik in der Medizin veröffentlicht haben, bildet dabei den Ausgangspunkt dieser Dissertation. Die Autorinnen haben auch dort Zeitungsartikel daraufhin untersucht, ob es sich beim genannten Phänomen um ein ethisches Problem handelt. Sie bejahen dies, weil sie unterschiedliche ethische Aspekte identifizieren, die entweder einer individual-, einer gesellschafts- oder einer global-ethischen Ebene zugeordnet werden können.

Für Jäger ist ein Diskurs ein mäandernder Fluss von Wissen durch die Zeit (Jäger, 2015, S. 26). Als Träger von Wissen – oder Wissensvorräten – üben Diskurse Macht aus, indem sie dominante Wissenselemente durch sogenannten Sag- und Machbarkeitsfeldern bestimmen und dadurch die «Realität» konstituieren. Ausgehend von diesem Verständnis von Diskurs, Macht und Wissen – das auf den Schriften von Michel Foucault basiert – strebt die KDA nach Jäger die Erreichung folgender Ziele an, die auch in dieser Dissertation verfolgt werden: (1) Das (jeweils gütige) Wissen der Diskurse wird ermittelt: Dieses Ziel wird mithilfe der Strukturanalyse von insgesamt 110 Zeitungsartikel erreicht, die mit einer systematischen Datenbankrecherche zusammengetragen wurden. Die Strukturanalyse zeigt auf, dass sich der Diskursstrang «Migration von langzeitpflegebedürftigen Menschen» aus diesen Diskurs- fragmenten zusammensetzt: Pflegebedürftige Menschen, Angehörige, Heimleitende, Langzeitpflegeinstitutionen und ihr Angebot, Pflegende, sowie Vermittler. Weil sich die gefundenen Aussagen der Diskursfragmente unterscheiden, je nach geografischem Raum, auf den sie sich beziehen (Migration nach Thailand oder nach Osteuropa), wurden im Anschluss an die Strukturanalyse diese zwei Zeitungsartikel einer Feinanalyse unterzogen: «Die Weisse Villa in Chiang Mai», publiziert in der NZZ am Sonntag vom 28. März 2004, sowie «Lebensabend in der Fremde», am13. März 2016 ebenfalls in der NZZ am Sonntag publiziert. Die Resultate der Feinanalysen zeigen auf, mit welchen sprachlichen Wirkungsmitteln die Aussagen der einzelnen Diskursfragmente gemacht werden und wie sie damit Wissen und Realität konstituieren. Weil es mithilfe der Feinanalysen möglich ist, Sagbarkeitsfelder von Aussagen innerhalb eines Diskursfragments sichtbar zu machen, ermöglicht die Feinanalyse gleichzeitig die Sichtbarmachung von marginalisiertem Wissen. Damit konnte Ziel Nr. (2) der KDA erreicht werden: Die Erkundung des Zusammenhangs von Wissen und Macht. Ziel Nr. (3) ist schliesslich die Kritik der Analyse-Ergebnisse. Obwohl bereits die Präsentation der Ergebnisse einer KDA von Jäger als «kritisch» bezeichnet wird – und damit die Erreichung der Ziele (1) und (2) als Kritik bezeichnet werden kann – fordert Jäger eine Kritik der Analyse-Ergebnisse mithilfe eines «moralisch-ethischen Massstabs», ohne diesen vorzustellen oder zu charakterisieren.

Das letzte Drittel der Dissertation umfasst die Entwicklung des von Jäger geforderten «moralisch-ethischen Massstabs» und das Anlegen des Massstabs an einige Analyseresultate. Um den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses – dass aus empirischen Forschungs- resultaten keine normativen Schlüsse gezogen werden dürfen – zu entkräften, wurde ein Massstab gewählt, der auf denselben epistemischen Fundamenten wie die KDA beruht und somit epistemisch konsistent ist. Weil sowohl die KDA, wie auch die feministische Ethik, auf den Fundamenten des Konstruktivismus ruhen, werden die Dimensionen des Massstabs aus den Charakteristiken der feministischen Ethik abgeleitet, wie sie Jacky Leach Scully (2017) definiert: Körperlichkeit, marginalisierte Stimmen, Relationalität und Fürsorge, sowie Machtstrukturen (S. 203ff). Dieser feministisch-ethische Massstab wird in der Folge an gewisse Resultate der Feinanalyse des Artikels «Die weisse Villa in Chiang Mai» angelegt.

Die Kritik ausgewählter Analyseresultate bewirkt, dass Sag- und Machbarkeitsfelder ausgeweitet werden und somit marginalisiertes Wissen innerhalb von Diskursen sichtbar wird. Diese Sichtbarmachung ist entscheidend, weil Wissen mit Macht und damit auch mit der Politik verbunden ist. Gelingt es marginalisiertes Wissen in politische Entscheidungs- prozesse einzuspeisen, so führt dies im Sinne von Leach Scully zu einer gerechteren Verteilung von epistemischer und ethischer Autorität innerhalb einer Gesellschaft.

Da die KDA eine qualitative Forschungsmethode ist, kann diese Dissertation als ein Beitrag innerhalb der empirisch informierten Bioethik im Sinne von Markus Christen und Mark Alfano (2014) verstanden werden.